Historie 1987 – 2022
1987 zeigen Muda Mathis, Teresa Alonso und Regina Florida Schmid als Les Reines des Couteaux – «die Königinnen der Messer» ihre erste Performance «Engel haben nie weit“ in der Alten Stadtgärtnerei, einem autonom besetzten Gelände mitten in der Stadt Basel. Es waren die Zeiten der Jugendunruhen, die sich mit Rebellion und Humor gegen die bürgerliche Gesellschaft stellten. Es ging um Experimente, um politische Statements und nicht zuletzt um feministische Artikulation.
Die Reines sind bildende Künstlerinnen und machen in ihrem ersten Auftritt Musik, indem sie Gemüse für eine Suppe schnippeln, singen und einige Synthesizerklänge-Sequenzen dazu einsetzen. Sie nehmen die Songs bei einem befreundeten Künstlerpaar MALOLA in ihrem kleinen 8-Spur-Audiostudio auf und vertreiben die Musik auf Kassette.
„Wir waren typische Kinder der achtziger Jahre. Wir verstanden uns als bildende Künstlerinnen, die Musik machen. Wir bezogen uns auf Punk und waren im eigentlichen Sinn Post Punks, wie die genialen Dilettanten, Die Tödliche Doris, die für uns Vorbilder waren.
Historisch war für uns Fluxus, DaDa, Aktionismus und Konzeptkunst wichtig. Wir verstanden uns als Teil der Jugendbewegung und waren Feministinnen. In der Kunst war uns multimediales Schaffen zentral. Wir waren Technik- und Theorieaffin. Wir wollten alles selber können und scheuten uns vor nichts.“
Ein Jahr später stossen zwei neue Künstlerinnen dazu, Fränzi Madörin und Pipilotti Rist. Der Bandname wird auf Les Reines Prochaines geändert (die nächsten Königinnen). Nach ein paar Wochen im Übungsraum treten die Fünf bereits auf.
Nebst reinen Kunstorten und jugendbewegten Kulturräumen spielen sie an Frauenorten.
„Die Frauen waren es, die uns geholt haben, immer wieder und so die Kontinuität gewährt und gepflegt haben.“
Die tragenden musikalischen Elemente ihrer Musik sind kurze Synthesizer- Loops; zwei, drei Töne oder Akkorde, Gesang, akzenthafte Perkussion und eine Melodika. Ihre unterschiedlichen Stimmen, die individuellen Texte, der Auftritt jeder Einzelnen, sind ihr wichtigster Ausdruck.
Jede ist eine Königin. Der Wechsel- und Chorgesang unterstreicht wiederum das Kollektiv, die Bande. Die Küche, das Banale, Triviale, die Welt der profanen Dinge als Metaphern fürs Leben sind Motive, die sie damals wie heute pflegen. Der Alltag wird in einem übersteigerten, einem poetischen Sinne thematisiert; die Farben voll aufgedreht. Les Reines Prochaines sehen sich immer als Figuren, die sich selber spielen.
Der Korg Poly 800 liefert die atmosphärischen, prägenden Sounds, das Schlagwerk wird melodiös oder kommentarhaft eingesetzt. Später kommt ein E-Bass dazu, aus der Melodika wird eine Handorgel und noch später erinnern sie sich, dass sie in der Kindheit Blasinstrumente gespielt haben.
Die Songs sind mit wenigen Elementen gebaut. Pop, Rock, Volksmusik, Chanson, Kurt Weil’sche Einflüsse, Cabaret, Circus und Minimalmusic sind wichtige Inspirationen.
Die Texte der Songs bewegen sich zwischen anmassender Selbstüberschätzung und Drohgebärde, zwischen Heilsversprechen und Beschimpfung. Der ironische Unterton relativiert zwar alles, trotzdem liegt viel Pathos drin.
Les Reines Prochaines nehmen keine Rücksicht auf eine grammatikalisch korrekte Sprache, weder im Englischen noch im Französischen.
„Uncool zu sein fanden wir cool. Gebastelt zu wirken fanden wir gut“.
Dilettantischer Professionalismus nennen sie es, Fehler, Ungereimtheiten und Unzulänglichkeiten nehmen sie einfach als Teil des Ganzen mit.
„Wir haben unserem Publikum ganz schön viel zugemutet an Unschönem, Unangepasstem, Eigensinnigem und dilettantisch frivol Unreinem und Derben. So hatten wir auch Freude, poppig, lustig und unterhaltend zu sein.“
Les Reines Prochaines ist eine Autorinnenband: jede schreibt Songs – die sie auch interpretiert. Jede unterstützt die anderen in ihren Liedern. Alle singen Lead, und alle begleiten sich gegenseitig, abwechselnd auf Gitarre, Akkordeon, Bass, Trompete, Klarinette, Saxophon, Euphonium, Schlagzeug, Tasteninstrumenten und Synthesizer. Die Instrumente wechseln zwischen den verschiedenen Bandmitgliedern. Alle Königinnen spielen alles, nur einige spielen einiges nicht.
Neue Mitglieder kommen, andere gehen.
Die Königinnen sind: Teresa Alonso von 1987 bis 1989, Regina Florida Schmid 1987 bis 1992, Pipilotti Rist 1988 bis 1994, Gabi Streiff 1991 bis 1996, Sibylle Hauert 1995 bis 1999 und weitere Projekte 2000 / 09/ 11/ 12/ 14 /18 / 21 / 22, Barbara Naegelin von 2003 bis 2008 ( 2000-02 Audiotechnik), Michele Fuchs 1998 bis 2018 und weiteres Projekte 2022, Muda Mathis seit 1987, Fränzi Madörin seit 1988, Sus Zwick seit 1998 (1991- 97 Audiotechnik)
Les Reines Prochaines arbeiten projektorientiert. Sie spielen tourneeweise recht kompakt und reisen viel durch die Schweiz, Deutschland, Österreich, Italien, Frankreich, Belgien, Norwegen, Schweden, Dänemark, Slowakei, Tschechen, Polen, Ukraine, Canada, Bulgarien, Russland. Oft werden die Tourneen ins Ausland von Pro Helvetia mitfinanziert. Die Entwicklung der der neuen Konzertprogramme hingegen sind reine Eigeninvestitionen.
Eine wichtige Arbeit ist die Dokumentation diese Konzertprogramme; zuerst auf Kassette später auf Vinyl und CD!
Nach den zwei Kassetten im Eigenverlag, arbeiten sie erstmals mit einem Label zusammen:
BOY (Because Of You) betrieben von Johannes Vetsch und Max Spillmann (Elephant Chateaux). BOY ist ein Unterlabel vom gut vernetzen Independend Label RecRec, das den Vertrieb ihrer Produktionen übernimmt.
Studioerfahrung ist eine heftige Erfahrung – plötzlich wird alles genau analysiert, alles gehört, Zweifel und Ehrgeiz wächst. Johannes Vetsch produziert ein wunderbares, eigensinniges Album (LP/CD) «Jawohl sie kann’s, sie hat’s geschafft» – die Musikerinnen selbst fühlen sich aber oft aus den Entscheidungsprozessen ausgeschlossen.
Daraufhin gründen sie ihr eigenes Audio-Studio im Gemeinschaftsatelier der VIA. Sie produzieren ihre nächste LP/CD «Lob Ehre Ruhm Dank» mit der Audiomischerin Katrin Brändle selbst und bringen sie auf abermals auf BOY heraus.
Ihre dritte CD erscheint direkt bei RecRec. Zum ersten Mal arbeiten sie mit einem, vom Label empfohlenen, erfahrenen Produzenten, Max Lässer, zusammen. Nach einem Monat intensiver Arbeit im VIA Studio haben sie viel gelernt und die Studioarbeit richtig satt. «Coeur en Beurre» heisst das gediegene, professionelle und schöne Album.
Es beginnt eine kontinuierliche fotographische Zusammenarbeit mit Tobi Madörin, der auch weitere Covers und Postkarten fotografiert. Grafikerin wird Iris Ganz, sie gestaltet die Booklets, Poster und Postkarten.
Die nächsten zwei CD’s «Alberta» und «Protest und Vasen» sind Live Mitschnitte in Zusammenarbeit mit dem Produzenten Wädi Gysi. Die live aufgenommen Songs werden im Studio nachbearbeitet und ein paar Tracks dazu gespielt – eine lockere, heitere Arbeitsweise mit dem Label Makeup, ebenfalls ein Unterlabel von RecRec. Dann kommt das grosse Labelsterben. Wieder im Eigenverlag produzieren sie mit dem Musiker Hipp Mathis die Single «Starke Kränze.
Filmische Arbeiten werden wichtig. Kurz nach der orangenen Revolution fahren Les Reines Prochaines nach Kiev und geben Konzerte, einen Workshop und interviewen Künstler:innen und Organisator:innen vor Ort, machen Filmaufnahmen. Daraus entsteht der Film «Kiev Connection».
Eine weitere Zusammenarbeit ergibt sich mit der Berliner Filmerin Natalie Perciller. Zusammen entwickeln sie eine filmische live Performance, DINGS. Diese funktioniert als Aufführung und später auch als rein filmisches Werk.
2007 feiern Les Reines Prochaines ihr 20ig jähriges Bestehen mit einer grossen Sause in der Kaserne Basel mit vielen Gästen und grossem Orchester.
Die Filmerin Claudia Wilke aus Hamburg beginnt mit der Produzentin Stella Händler mit der Arbeit eines Dokumentarfilmes über die Band. „Alleine denken ist kriminell“, der Dokumentarfilm erscheint 2012.
Inzwischen haben sich viele undokumentierte Konzertprogramme aufgestaut: Sie erarbeiten mit David Kerman, langjähriger Schlagzeuger in verschiedenen Projekten, Dis Album „Blut“ und finden dafür das junge queerfeministische Label unrecords aus Wien. Eine weitere CD auf unrecords folgt «Zu unserer Verfassung», produziert von den Label-Betreiberinnen, Aurora Hackel und Les Reines Prochaines – nach 30 jähriger Erfahrung eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe, aufgenommen in der VIA, gemischt von Chris Janka in Wien.
Die Band gewinnt 2019 überraschend den Schweizer Musikpreis.
Ein wichtiger Impuls bleiben grosse performative Projekte mit anderen Künstlerinnen und Künstlern. Oft steht eine kollektive Zusammenarbeit am Anfang, aus der dann im Nachhinein ein Konzertprogramm in der kleinen Bandformation entsteht.
Wie schon im Initialprojekt «Engel haben nie weit“, werden Songs erstmal in einer experimentellen, performativen Situation erprobt.
„Wie können verschiedenste individuelle Artikulationen, Interessen und Ideen zu einem grossen Ganzen zusammenkommen? Was uns als Band im Kleinen interessiert, interessiert uns auch in grösseren Kontexten. Wie kann Unterschiedlichkeit zu Vielstimmigkeit werden? Wie kann die Kraft des Einzelnen zu einer Gruppe, zu einem verbindlichen Gefüge, zu einem Wesen werden?»
Die Arbeitsprinzipien von Les Reines Prochaines sind:
Jede muss ihre Ideen einbringen. Nicht auf Konsens hin arbeiten. Nicht gleich Nein sagen. Laufenlassen und mitgehen. Jede ist Autorin und übernimmt die Verantwortung für ihre Ideen. Jede hat einen definierten Bereich, den sie gestaltet ganz wie sie will.
In der kollektiven Zusammenarbeit mit dem Anspruch auf Multi-Royalität entstehen über viele Jahre verschiedenste kollaborative Experimente in neuen Formaten und Kontexten; Performances im öffentlich Raum, Strassentheater, Zirkus, Musik für Film und Theater, Hörspiel-Performances. Und Nummernabende mit der Performancegruppe Evi Nic und C, mit treibender Kraft von Chris Regn, oft mit vielen Gästen und grossem Orchester. Daraus erwächst die erweiterte Formation „Les Reines Prochaines & Friends“; 14 Performer:innen, die bis jetzt zwei Musiktheaterperformances realisierten:
«Let’s sind Arbeiterin“, ist eine Revue mit Gesangs- und Tanznummern, Chorstücken und Erzählpassagen, basierend auf der Recherche der Arbeiterbewegung in den Anfängen der Industrialisierung, im Brennglas der eigenen Biographien, Familiengeschichten und Erfahrungen. Die Theaterproduktion feiert in der Kaserne Basel Premiere und geht anschliessend auf Tournee.
Darauf folgt eine Einladung ans Theater Basel. Da sind die Arbeitsabläufe fest vom Betrieb bestimmt – eine ganz neue Herausforderung – aber auch mit vielen, vielen Möglichkeiten: grosse visuelle Effekte, extravagante Bauten, tanzende Bühnenböden und fahrende Podeste.
«Alte Tiere Hochgestapelt» heisst das Stück und es geht anhand des Märchens der Bremer Stadtmusikanten um alte Körper, die Emanzipation der Ausgemusterten unserer Gesellschaft, die Kraft der Kollektive und Kollaborationen in der Natur.
2022 werden „Les Reines Prochaines and Friends“ mit dem Basler Kulturpreis ausgezeichnet.
In Planung ist eine konzertante Version des Stückes «Alte Tiere Hochgestapelt».
Derzeit touren die Reines Prochaines mit ihrem Programm «Rubination» im In- und Ausland.